Ein prägendes Element für das Schaffen des Michael Praetorius war das Komponieren für mehrere Chöre. Dabei griff er, vermutlich ohne jemals selbst in Italien gewesen zu sein, Einflüsse der so genannten Venezianischen Mehrchörigkeit auf.

Die Anfänge der Mehrchörigkeit lassen sich in Padua finden. Sie entstand rund um Ruffino d’Asissi (ca. 1490–ca. 1532) aus dem antiphonalen Vortrag, dem einstimmigen Antwort- beziehungsweise Wechselgesang zweier im Raum getrennter Gruppen. Ruffino war es, der ein Regelwerk zur Stabilisierung mehrchöriger Strukturen entwickelte. Diese Regeln, wie etwa das Bassfundament, der akkordhafte Aufbau der Stimmen und das Zusammenwirken zweier im Raum getrennter Chöre, die unabhängig singen können (Coro spezzato), waren auch die Grundlage der Venezianischen Mehrchörigkeit des späten 16. Jahrhunderts. Ruffino selbst komponierte für Doppelchor im Sinne des Coro spezzato etwa die achtstimmige Missa super  verbum bonum et suave (Ravizza 1989, Sp. 1754 f.).

Die Mehrchörigkeit verbreitete sich in ganz Italien und entwickelte sich im damaligen Kulturzentrum Venedig zu einer der bestimmenden Kompositionsformen. Die Kirche San Marco und ihre Emporen begünstigten die Entwicklung. Bedeutende Vertreter waren Andrea Gabrieli und sein Neffe Giovanni Gabrieli, die beide in San Marco angestellt waren. Ihnen und Claudio Monteverdi verdankt die Venezianische Mehrchörigkeit noch heute ihre Bekanntheit. Andrea Gabrieli komponierte für bis zu 16 Stimmen, die in bis zu vier Chöre aufgeteilt waren. Dabei musste ein Chor oder eine Stimme nicht nur aus Sängern bestehen, sondern konnte auch von Instrumenten übernommen werden. Das liegt unter anderem an der Zahl der verfügbaren Musiker und der Funktion gewisser Instrumente. So galt die Trompete als ein Symbol der Macht und vermittelte Herrschaftlichkeit, Prunk und Kraft. Tasteninstrumente übernahmen meist eine begleitende Funktion. So konnte die Orgel als Harmonieinstrument mehrere Stimmen gleichzeitig stützen. Wie schon Ruffino, forderte die Venezianische Mehrchörigkeit stets ein Bassfundament. Dieses sollte möglichst durch ein Bassinstrument und ein Harmonieinstrument gestützt werden. Räumliche Trennung der beiden Chöre und die damit verbundenen Klangeffekte wurden zu einem wichtigen Stilmittel Andrea und Giovanni Gabrielis. Zwar wurde immer noch am antiphonalen Vortrag und dem Wechselspiel der Chöre festgehalten, allerdings waren die Chöre weitgehend unabhängig voneinander konzipiert. Mehrchörige Satztechniken gaben den Komponisten neue klangliche und gestalterische Möglichkeiten. Darunter sind Klangpracht, verschiedene Raumwirkungen, Ausdünnungen, Tuttiblöcke, Echowirkung, Wiederholungen, Kontraste und die Tendenz zur klanglichen Zentrierung.

Die Venezianische Mehrchörigkeit verbreitete sich rasch auch in Deutschland. Dies lag vor allem an den Verbindungen deutscher Höfe und Kaufleute mit dem Handelszentrum Venedig. Deutsche Fürsten stellten immer wieder italienische Künstler an ihren Höfen an oder ließen ihre Hofmusiker zur Weiterbildung nach Italien reisen. Michael Praetorius selbst wurde maßgeblich durch seine politischen Reisen zum Reichstag nach Regensburg und in die kaiserliche Residenzstadt Prag beeinflusst, wo er in Kontakt mit den Musikern der italophilen Habsburgischen und Wittelsbachischen Höfe kam.

Beeinflusst von der italienischen Musik, die in Form von Musikdrucken und Handschriften in den deutschen Bibliotheken weite Verbreitung gefunden hatte, adaptierte Praetorius Kompositionsprinzipien der Venezianischen Mehrchörigkeit für die Zwecke des Wolfenbütteler Hofs. In seinem opus primum, den Musarum Sioniarum motetcae et psalmi Latini von 1607,  und in den ersten vier Bänden der Musae sinoniae finden sich zahlreiche mehrchörig-geistliche Kompositionen. Praetorius entwickelte so etwas wie einen Personalstil. So vermeidet er zum Beispiel satztechnische Monotonien. Wenn eine Gesangsstimme die Grundfunktion übernimmt, soll sie wie bei den Gabrielis durch Bass- und Harmonieinstrument verstärkt werden. Ein Holzschnitt, der gleich in mehreren seiner Werke zu finden ist und als Titelblatt dient, veranschaulicht die räumliche Trennung der Chöre, die Praetorius von seinen italienischen Vorbildern übernommen hatte. Die Grafik lässt nicht nur Rückschlüsse auf die von Praetorius angestrebte räumliche Differenzierung des Klangs zu, sondern erlaubt auch Rückschlüsse auf die instrumentale und vokale Besetzung der einzelnen Teilensembles.

Im dritten Band seiner musiktheoretischen Schrift Syntagma musicum beschreibt Michael Praetorius ausführlich musikalische und kompositorische Besonderheiten der Mehrchörigkeit, von denen hier nun einige wenige herausgegriffen werden sollen. Er berichtet etwa über die besondere Rolle von Knaben. Diese sollten während des Gottesdienstes jedenfalls nahe der Orgel stehen, wohl um mögliche Intonations- oder Lesefehler zu vermeiden (Praetorius 1619, S. 172). Die von Praetorius in einigen Kompositionen eingetragene Bemerkung „Sola voce“ deutet vermutlich auf Sologesang hin – unter anderem von Knaben. Damit diese ein Fundament haben, solle die Orgel die Solostimmen begleiten. Das Gegenstück zur Solo-Anweisung ist die Bemerkung „Chorus Vocibus Instrumentis et Organo“. An diesen Stellen setzt der Chor inklusive der Instrumente ein. Das Abwechseln von Solo und Tutti hat nicht nur einen klanglichen Zweck, es stellt auch die Chortrennung deutlicher dar. Praetorius betont in den Vorreden zu seinen Drucken immer wieder, dass seine Musik eigentlich für das Volk sei, dieses aber aufgrund zu geringer musikalischer Bildung nicht mitsingen könne (Praetorius 1619, S. 169 f.). So hat zum Beispiel der Satz Victimae pascali laudes einen choralhaften Anfang. Die eingängige Melodie entfaltet sich in drei Stimmen und leitet das Werk ein. Die Komposition löst sich jedoch von diesem Modell und wird in einem komplexeren zehnstimmigen Satz weitergeführt. Ein weiteres bemerkenswertes Werk, das die mehrchörige Kompositionsweise des Michael Praetorius verdeutlicht ist Erhalt uns Herr bei deinem Wort für nicht weniger als 17 Stimmen. Der konzertante Satz ist Teil der Sammlung Polyhymnia caduceatrix aus dem Jahr 1619 und ist in einer Aufnahme des Early Music Constorts London unter der Leitung von David Munrow verfügbar.

Jonas Häusler

Ausgewählte Literatur zum Thema

Victor Ravizza; Dorothea Mielke-Gerdes, „Mehrchörigkeit“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG²), 2. Auflage, Sachteil, Band  5, Kassel u. a. 1989, Sp. 1747–1766.

Michael Praetorius, Musarum sioniarum motectae et psalmi latini, (=Gesamtausgabe der musikalischen Werke 10, hrsg. Von Friedrich Blume) Wolfenbüttel und Berlin 1931.

Michael Praetorius, Syntagma Musicum, Band 3, Wolfenbüttel 1619, Faksimile- Nachdruck hrsg. von Wilibald Gurlitt, Kassel 1867 (Documenta musicologica, Erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles 15).

Hinterlasse einen Kommentar